Leseprobe „Das Buch des Hüters“

Leseprobe:

Prolog
„Wir hätten sie ausrotten sollen, als wir noch Zeit dazu hatten!“
Der junge Mann zog seinen verschlissenen Mantel enger um den dürren Körper. Seine Jeans war ausgewaschen und bereits an mehreren Stellen mit andersfarbigen Flicken ausgebessert. Die braunen Stiefel waren staubig und fleckig. Ein dichter, buschiger Bart bedeckte sein Gesicht. Die Nacht war kalt geworden, doch die beiden Wächter trauten sich nicht, ein Feuer zu entfachen, um ihren Standort nicht zu verraten.
„Sie mussten ja unbedingt Naturschutzreservate einrichten. Tierschutz. Pah, dass ich nicht lache. Und wer schützt jetzt uns Menschen?“
Er spuckte in die Dunkelheit. Die Männer saßen zusammengekauert auf den Resten des alten Stadttores und starrten in die Nacht. Außerhalb der Stadtmauer standen nur noch die Ruinen der verlassenen Häuser. Erste Bäume und Sträucher hatten sich in den Mauerritzen breitgemacht. Sal-weiden und Sandbirken hatten begonnen, die Gebäude langsam auseinan-derzureißen und den Asphalt der Straßen zu sprengen. Nachtkerze, Wilde Kamille, Brennnessel und Rauke wuchsen in dichten Teppichen auf den Plätzen, die früher einmal Gärten, Parkanlagen oder Verkehrsinseln gewe-sen waren. Kleine Tiere huschten raschelnd und jaulend durch die Dun-kelheit. Irgendwo in dem nahegelegenen Dickicht fauchte etwas. Der jun-ge Mann sprang auf und horchte.
Sie hatten in dieser Woche die Nachtwache hier am nördlichen Ende der Stadt zugeteilt bekommen. Der Ältere der beiden hatte sich den Mono-log des Jungen schweigend angehört. Er war glatt rasiert, doch seine Klei-dung war ebenso alt wie die des Jungen. Sein Leinenhemd war fadenschei-nig aber sauber, seine Wollhose von geschickter Hand immer wieder her-gerichtet worden. Nur die Brille, deren beide Gläser gesprungen waren, zeugte davon, dass in diesem Zeitalter nicht mehr jeder Schaden behoben werden konnte. Nun holte er tief Luft.
„Das ist die Rache der Natur!“, widersprach er dem jungen Mann. „Das haben wir verdient!“
Der Junge wandte sich wieder dem Alten zu und lachte spöttisch.
„Dass ich nicht lache. Wir haben es also verdient, wieder im Dreck zu leben? Wieder ohne Schutz dazustehen? Und als ob das alles noch nicht genug wäre, müssen wir uns auch noch mit diesen Viechern rumschlagen. Weißt du was? Wenn unsere Vorfahren nicht so viele von den Tieren aus-gerottet hätten, dann wären jetzt noch mehr Viecher hier, die uns an den Kragen wollten.“
Der Alte streckte sich. Die Wache machte ihm langsam zu schaffen. Er wurde alt und hatte schon so viele Nächte über die Geschichte der Welt nachgedacht.
„Nein, nein, hätten wir früher mit der Natur im Einklang gelebt, anstatt sie auszubeuten und Raubbau an ihr zu betreiben, dann hätten wir länger überlebt, und die Katastrophe wäre ausgeblieben.“
Der junge Wächter wurde laut. Er hatte seine eigentliche Aufgabe nun fast vollständig vergessen und sagte wütend:
„Du redest wirres Zeug. Wir hätten die Kontrolle behalten, wenn diese Irren, diese verdammten Irren nicht den Stecker gezogen hätten! Back to nature! Wenn ich nur daran denke, läuft es mir kalt den Rücken runter. Das haben wir jetzt davon. Nur gut, dass auch diese Verrückten jetzt von den Viechern gefressen werden.“
Es herrschte Stille. Der Alte konnte die Wut des Jungen in der Dunkel-heit förmlich spüren. Er sah zwar nur seine Silhouette in der Nacht, doch seine Körperhaltung drückte die ganze Wut einer Generation aus, die das Gefühl hatte, um ihre Zukunft betrogen worden zu sein. Trotzdem, der Alte seufzte, irgendwann musste er es mal jemandem sagen.
„Ich fand die immer gut. Ich habe sie sogar ein wenig bewundert damals. Gut, man nannte sie Ökofaschisten. Aber endlich hat sich mal jemand ge-wehrt! Du bist vielleicht noch ein wenig zu jung, aber die Zeiten waren nicht mehr schön damals. Umweltverschmutzung, Ausbeutung von Mensch und Natur – an jeder Ecke konnte man es sehen, und immer hieß es nur: ,Zum Schutz der Arbeitsplätze!‘, ,Zum Schutz der Wirtschafts-kraft!‘, ,Zum Schutz des Einkommens!‘.“
Er spürte, wie der Junge neben ihm bebte. Trotzdem sprach er weiter.
„Die Zukunft der Welt zerrann unter unseren Fingern. Und trotzdem machten sie immer weiter! Sie saugten sie und uns bis aufs Blut aus! Weißt du, auch damals starben Menschen! Nur, es scheint mir, als stürben sie heute ehrlicher.“
Er hielt kurz inne, bevor er seinen Monolog beendete.
„Niemand konnte ahnen, dass es so enden würde. Auch ich habe sie damals unterstützt! Das war das erste Mal, dass ich mich etwas getraut ha-be. Sie hätten es auch ohne mich geschafft, aber darum ging es gar nicht. Ich war dabei! Es war eine große, eine sehr große, gut koordinierte Aktion. Alle Computer fielen aus. Das Stromnetz auf der ganzen Welt kollabierte. Es ist nicht unsere Schuld, dass danach die Katastrophe ausbrach. Es ist vielleicht einfach nur die Rache der Natur, dass wir nun hier sitzen und uns mit Speeren und langen Messern gegen die mutierten Viecher wehren müssen.“
Er sah den Jungen an, der gegen Ende des Vortrags aufgestanden war. Dieser griff mit einer Hand unter seine Jacke und holte einen metallenen Gegenstand hervor. Das Licht der Sterne spiegelte sich darin.
„Ich habe noch eine Pistole“, sprach er und zielte auf den Alten.
Als der Knall des Schusses verhallt war, ließ sich der Junge schnaufend wieder auf seinen Platz fallen.
Dann waren die Viecher plötzlich über ihm.

„Das Buch des Hüters“

3 Antworten zu Leseprobe „Das Buch des Hüters“

  1. Ich mag Postapokalypse.

    Etwas bemüht finde ich, das Setting durch einen beliebigen Dialog der beiden Wachen zu vermitteln. Eine vertraute Situation rekapituliert man sicher nicht, während man einer Routinetätigkeit nachgeht und sich wachsam auf die Umgegend konzentriert.

    Als ob eine Polizeistreife sich über die Eurokrise unterhalten würde und resümiert, warum alles so gekommen ist.

    Was jedoch sehr gut funktioniert: Jetzt bin ich neugierig, wie es denn so weit kommen konnte.

    • admin sagt:

      Ach, bemüht? Ich mag es. 😀
      Es war der Ausgangspunkt der ganzen Geschichte. Damit fing die ganze „Inspiration“ an. Eine Reflektion über vergangene Zeiten. Ich mag das. Und dass sie nicht aufmerksam sind, wird ihnen schließlich zum Verhängnis. 🙂

      Hauptsache es funtioniert und hat dich gepackt, darüber freue ich mich. Das Buch müsste bei Euch bereits liegen. Hat es ^kh nicht als Rezi-Exemplar?

  2. Pingback: Leseprobe “Das Buch des Hüters” | Andreas Dresen

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