Leseprobe: Wilhelmstadt – Die Abenteuer der Johanne deJonker, Band1: Die Maschinen des Saladin Sansibar

Dampfend und zischend fuhr der Orient-Express in den Bahnhof von Wilhelmstadt ein. Grauer Qualm sammelte sich unter dem gewölbten Glasdach und trübte die einfallenden Sonnenstrahlen. Der Elefantenkopf der Lokomotive schob sich über die Gleise, wurde immer langsamer und blieb schließlich prustend und hustend am Ende des Bahnsteigs stehen. Die langen, stählernen Stoßzähne wirkten wie zwei Puffer, die alles, was dem Zug in den Weg kam, von den Gleisen fegten. Was den Zähnen entkam, prallte gegen die wuchtige Stirn des eisernen Elefantenbullen, dessen Kopf wie eine Galionsfigur den Zug schmückte.
Die Türen des Zuges sprangen auf und die Menschen quollen aus den Waggons. Die einen steuerten auf die großen marmornen Treppen zu, um ihren Geschäften in Wilhelmstadt, die sie so lange vernachlässigt hatten, nachzugehen, andere eilten über den Bahnsteig, um ihren Anschlusszug zu erreichen. Auf dem Nachbargleis wartete bereits der Braune Bär. Dieser Zug würde seine Passagiere von Wilhelmstadt über Frankfurt nach Berlin bringen und von dort aus nach Moskau weiterreisen.
„Es war schön, Sie kennengelernt zu haben, Fräulein deJonker.“
Der junge Mann mit dem Spitzbart verbeugte sich galant vor der jungen Dame, mit der er die letzten Stunden seiner Reise verbracht hatte.
„Wenn ich nicht mein Luftschiff, die HRAVictoria, erreichen müsste, wäre es mir eine Freude, sie auch weiterhin in Wilhelmstadt zu begleiten. Aber leider ruft mich die Pflicht und ich reise weiter nach London, wo man mich bereits heute Abend im Club erwartet.“
„Die Freude wäre ganz meinerseits, Herr Doktor“, antwortete Johanne kokett und stellte ihre Handtasche auf den Boden, um ihm die Hand zum Kuss hinzuhalten. Der Doktor ergriff sie und hauchte den Kuss auf ihre Finger.
Plötzlich erhielt Johanne einen Stoß in den Rücken und stolperte. Im nächsten Moment war ihre Handtasche verschwunden.
„Hey“, rief Johanne. „Meine Papiere! Meine Handtasche! Haltet den Dieb!“
Sie zeigte auf einen kleinen, dreckigen Jungen, der sich die Beute an die Brust drückte und sofort die Beine in die Hand nahm.
„Verdammt, den kriegen sie nicht mehr“, sagte der Doktor verdrossen.
„Ach, Unsinn.“ Johanne packte ihren Schirm und rief: „Aus dem Weg!“
Dann hob sie die Spitze des Schirms in Richtung des Jungen, der inzwischen den halben Bahnsteig überquert hatte. Johanne zielte, dann drückte sie auf einen versteckten Knopf im Griff des Schirms.
Eine Feder löste sich mit einem Knacken und die Streben des Schirms lösten sich und flogen wie eine riesige Spinne durch die Luft. Kurz darauf lag der Junge auf der Erde, seine Beine im Drahtgeflecht des Schirms verheddert. Johanne schnappte sich die Handtasche und schaute dem Jungen in die Augen. Das Gesicht war dreckig, seine Kleidung zerrissen. Aus großen blauen Augen sah er Johanne verzweifelt an. Er wusste, was ihm nun blühte. Wenn er in die Hände der Kaiserlichen Geheimpolizei fiele, käme er erst ins Heim, dann in die Fabrik. Wenn er Glück hatte. Er würde wahrscheinlich schon lange erwachsen sein, bis er wieder frei wäre.
Hanne nahm mit einem geschickten Griff die Drahtsperre von seinen Beinen.
„Hau bloß ab“, zischte sie ihm zu.
Der Junge grinste und war schon in der Menge verschwunden, als sich Johanne wieder ihrem Begleiter zuwandte.
„Sie sind mir ja ein Kavalier“, sagte sie grinsend, doch der Herr Doktor mit dem Bart war fort.
„Wahrscheinlich steckte er mit dem Jungen unter einer Decke“, sagte ein älterer Mann, der neben Johanne aufgetauchte. „Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung, Fräulein Johanne.“
„Wohin bringst du mich, Joseph?“
Johanne saß neben dem Hausdiener ihrer Familie auf dem Kutschbock, während er sie durch die Stadt fuhr. Wilhelmstadt war gewachsen, seitdem sie das letzte Mal hier gewesen war. Die Segmente schienen zum Teil neu bebaut worden zu sein. Der neue Reichtum der Stadt war unübersehbar, denn große Kaufmannshäuser reihten sich wie eine glänzend polierte Perlenkette entlang der Hauptstraßen. Doch ebenso unübersehbar war die große Armut, als sie kurz darauf durch die kleineren Straßen des achten Segments fuhren. Dreckige Kinder spielten auf der Straße, dürre Frauen mit eingefallenen Gesichtern starrten sie aus dunklen Löchern, die sie ihr Zuhause nannten, an.
„Das ist nicht der Weg zum Haus Schamal!“, sagte sie, mit wachsender Sorge.
Der Rauch der Kamine der armseligen Ziegelhäuschen, die die Wege säumten, und der
Qualm der riesigen Schlote der Fabriken, die in diesem Teil der Stadt das Bild prägten, legte sich wie ein öliger Film auf alles Leben. In einem Hauseingang lag ein alter Mann in Lumpen. Sein Blick ging ins Leere, nur seine Finger zuckten, als die Droschke vorbeifuhr.
„Joseph, ich glaube, dieser Mensch dort vorne stirbt! Wir müssen etwas tun!“
Joseph schüttelte traurig den Kopf.
„In diesen Straßen wird zu jeder Stunde gestorben, Herrin. Wir können nicht jeden retten. Wir müssen sehen, dass wir überleben.“
„Dann bring mich weg von hier. Bring mich nach Hause.“
„Das tue ich bereits, Fräulein Johanne.“
„Aber … Haus Schamal liegt im vierten Bezirk. Direkt am Park! Was wollen wir dann hier?“
„Fräulein Johanne, seitdem der Kaiser die Familie deJonker enteignet hat, leben wir hier. Graf Eyth war so freundlich, uns ein Zimmer in einem seiner Häuser zu geben. Als er hörte, dass das gnädige Fräulein heimkehrt, hat er sogar eine ganze Wohnung räumen lassen.“
„Räumen lassen? Aber was ist mit den Menschen, die dort gelebt haben? Und warum wohnen wir nicht im Haus Schamal?“
„Fräulein Johanne, der Kaiser hat Haus Schamal konfisziert! Euch gehören nur noch die Sachen, die ihr am Leib tragt, und die wenigen Sachen, die Marianne und ich retten konnten. Und die Vormieter unserer neuen Bleibe … nun, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich leben sie auf der Straße. Entweder sie oder wir.“
Johanne versank in brütendes Schweigen, bis sie endlich vor einem kleinen Ziegelhaus hielten.
„Ich werde alles dafür tun, um die Ehre unserer Familie wieder herzustellen“, brach es aus Johanne heraus. „Das lasse ich nicht auf mir sitzen. Nicht dieses himmelschreiende Unrecht!“
„Der Kaiser hat durch die Schuld Ihres Vaters seinen Neffen verloren“, gab Joseph zu bedenken.
„Die Schuld meines Vaters wurde noch nicht festgestellt. Ich werde seine Unschuld beweisen!“
Joseph kicherte kurz. „Vielleicht könnte ich Euch mit den Dunklen Künsten zu Diensten sein? Euer Herr Vater hat sich in diesem Bereich immer auf mich verlassen.“
Johanne keuchte entsetzt auf.
„Lass mich damit in Ruhe! Was meinst du damit? Voodoo? Zauberkunst? Joseph, ich wünschte, du hättest deinen Aberglauben in deinem böhmischen Dorf gelassen, aus dem du mit Marianne gekommen bist. Es ist das Jahrhundert der Wissenschaften. Ich bin eine studierte Frau. Also komm mir nicht mit diesem Volksglauben. Das hat von nun an keinen Platz mehr bei uns, verstanden?“
Joseph nickte enttäuscht. „Ich habe verstanden, Fräulein. Auch wenn ich glaube, dass
Ihr …“
„Schluss jetzt. Ich will nichts mehr davon hören. Außerdem glaube ich einfach nicht, dass mein Vater sich damit abgegeben hat. Du musst dich getäuscht haben.“
Sie stiegen aus und betrachteten das Haus.
„Hier ist es also?“, fragte Johanne.
„Hier ist es. Unser neues Zuhause.“
Das Haus hatte zwei Stockwerke und ein marodes Dach. Wenn man bedachte, dass Wilhelmstadt erst rund dreißig Jahre alt war, dann war dieses Gebäude dafür in einem furchtbaren Zustand. Die Fensterscheiben waren gesprungen, die Ziegel waren vom täglichen Ruß der nahen Schlote fast schwarz geworden.
„Wir sollten hinein gehen“, sagte Joseph. „Die Straßen sind nicht sicher.“
Johanne nickte nur.
In diesem Moment fiel eine junge Frau aus den Wolken, landete mit einem Krachen auf dem löchrigen Dach, rutschte daran hinab und knallte mit ausgestreckten Armen und einem offensichtlich zermalmtem Bein auf den Bürgersteig, wo sie in einer sich schnell ausbreitenden Blutlache liegen blieb.

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